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Autorenlesung mit Wolfgang Kaes am Freitag 19. November im Köllenhof – Anmeldung per E-Mail erforderlich

Wachtberg-Ließem – Auf Einladung des Wachtberger Büchereiverbundes liest der weit über die Grenzen Bonns hin bekannte Buchautor Wolfgang Kaes („Spur 24“, „Endstation“), vielfach ausgezeichneter Bonner Journalist und ehemaliger Chefreporter des Bonner-General-Anzeigers aus seinem neuen Roman „Das Lemming-Projekt“ im Kulturzentrum Köllenhof in Ließem. Beginn: 19.30 Uhr

Interview mit Wolfgang Kaes zu „Das Lemming-Projekt“

Dresen: Herr Kaes, Ihr neuer Roman beschäftigt sich mit den Schattenseiten der Internet-Netzwerke und deren Missbrauch für politische Zwecke. Gab es eigentlich einen unmittelbaren konkreten Anlass, diesen Roman zu schreiben, dieses Sujet zu wählen?

Kaes: Ja. Ich hatte per Zufall spätabends auf Arte den Dokumentarfilm „The Cleaners“ gesehen, der mich regelrecht umgehauen hat. Ein journalistisches Meisterstück. Zwei deutsche Filmemacher – Hans Block und Moritz Riesewieck – haben den hauptsächlich in der philippinischen Hauptstadt Manila gedreht, wo schätzungsweise 150.000 junge Menschen den brutalen Job machen, im Akkord und sozusagen in Handarbeit die sogenannten sozialen Medien im Auftrag der IT-Konzerne vom digitalen Giftmüll zu säubern.

Dresen: Wie sahen Ihre sicher umfangreichen Recherchen für den Roman aus? Er spielt ja u.a. in einer fast hermetisch abgeschlossenen Welt.

Kaes: Ich habe in den 42 Berufsjahren als Journalist nie über meine Recherchen gesprochen und werde es auch jetzt nicht tun. Um Quellen, um Informanten, um Menschen zu schützen. Jedenfalls verging ein ganzes Jahr mit intensiven Recherchen, bevor ich die erste Romanzeile aufgeschrieben habe.

Dresen: Und wieso haben Sie die Handlung nach Spanien verlegt und nicht auf die Philippinen, nach Manila, wo ja das Zentrum der „Cleaners“ beheimatet ist, wie Sie in Ihrem Nachwort schreiben? Und Sie haben diesen „Cleaners“ ja letztendlich auch Ihr Buch gewidmet.

Kaes: Weil es diese Löschfabriken nicht mehr nur in Manila gibt. Sondern inzwischen auch in Europa – in Ländern und Regionen mit hoher Jugendarbeitslosigkeit und stark katholischer Prägung. Ich hätte auch Polen oder Irland nehmen können. Aber da kenne ich mich nicht so gut aus. Also fiel die Wahl auf Andalusien.

Dresen: Sind die Arbeitsbedingungen der Cleaners tatsächlich so katastrophal, wie in Ihrem Roman geschildert, oder haben Sie aus „spannungstechnischen Gründen“ literarisch überhöht?

Kaes: Da ist nichts überhöht. Das ist bittere Realität. Diese Menschen ruinieren ihre seelische Gesundheit, damit die zarten Seelen der Nutzer dieser Plattformen möglichst unbehelligt bleiben. Depressionen sind extrem verbreitet, die Suizidrate ist erschreckend hoch. Es interessiert nur niemanden, weil die Löschfabriken bewusst unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung agieren.

Dresen: Durch die kürzlich bekannt gewordenen Veröffentlichungen von Frances Haugen über die Praktiken von Facebook hat Ihr Roman eine ungemeine Aktualität und Brisanz erfahren. Fühlen Sie sich bestätigt?

Kaes: Von den ersten Recherchen und der groben Konzeption eines neuen Romans bis zum Erscheinen des Buches vergehen bei mir mindestens zweieinhalb Jahre. Da habe ich natürlich immer die Sorge: Ist das Thema noch relevant, wenn das Buch erscheint? Ja, es ist relevanter denn je, wie die Aussage der ehemaligen Facebook-Managerin vor dem US-Senat bestätigt hat.

Dresen: Gefährden die Praktiken der IT-Großkonzerne Ihrer Meinung nach wirklich die Grundfesten unsere Gesellschaft, unsere Demokratie gar, wie Frances Haugen in ihrer Befragung drastisch warnte? Wenn ja: Was befürchten Sie?

Kaes: Ex-Facebook-Manager Antonio García Martinéz hat es mal auf den Punkt gebracht: „Früher hatte jeder das Recht auf eine eigene Meinung. Heute beansprucht jeder das Recht auf eine eigene Realität.“ Die selbstlernenden Algorithmen in den Großrechnern im Silicon Valley haben festgestellt, dass sich mit negativen Emotionen deutlich mehr „traffic“ erzielen lässt. Somit sorgt Hass für mehr Profit als lustige Katzenvideos. Zudem sorgen die Algorithmen dafür, dass sich die Leute, ohne es zu merken, ganz schnell nur noch in ihren homogenen Echokammern bewegen – unter Gleichgesinnten. Eine Demokratie setzt aber voraus, dass es eine Verständigung auf ein paar gemeinsame Grundwahrheiten gibt. Verständigung entsteht durch Kommunikation. Wenn aber Kommunikation zunehmend nur noch in abgespaltenen Echokammern stattfindet, es also keine gemeinsamen Grundüberzeugungen mehr gibt, dann wird das die äußerst fragilen demokratischen Gesellschaften allmählich zerstören.

Dresen: Die Büchse der Pandora ist ja inzwischen weit geöffnet: Ist Ihrer Meinung nach der Kampf gegen die digitale Hydra im Netz, ob im normalen Netz oder im Darknet, durch Reinigungsaktionen überhaupt noch zu gewinnen?

Kaes: Ich fürchte, der Kampf ist schon verloren, bevor er überhaupt richtig angefangen hat. Die Löschfabriken sind nur ein Feigenblatt, weil die etablierten IT-Konzerne zunehmend unter politischen Druck geraten. Und die Hardcore-Szene, die versichert, dass uns Bill Gates über die Corona-Impfung einen Chip unter die Haut transplantiert, wandert inzwischen in neue Netzwerke wie Telegram ab. Das Darknet wird übrigens in seiner politischen Wirkung häufig überschätzt. Das ist nämlich ein Ammenmärchen, dass die widerlichsten Formen von Hass und Hetze nur dort kursieren. Im Darknet kannst du illegal Waffen kaufen. Im frei zugänglichen Internet erzählen sie dir dann, gegen wen du die gekaufte Waffe einsetzen kannst, um deinen Hass auszuleben.

Dresen: Was treibt Ihrer Meinung so viele der Milliarden Nutzer im Netz eigentlich an, wie die Lemminge ein paar Meinungsführern und Heilsbringern hinterher zu hecheln?

Kaes: Die Sehnsucht nach einfachen Antworten in Twitter-Kürze zu komplexen Problemen in einer immer komplizierter werdenden Welt. Das ist das Erfolgsgeheimnis aller Populisten dieser Welt, die sich die Netzwerke gezielt zunutze machen.

Dresen: Herr Kaes, verstehen Sie sich als „literarischer Whistleblower“?

Kaes: Nein. Ich bin auch kein Experte. Ich mache mir nur das Wissen von Experten zunutze. Und benutze meine Romane im Genre Spannungsliteratur, um Menschen zu verführen, sich auf kurzweilige, möglichst unterhaltsame Weise mit einem Thema auseinanderzusetzen, mit dem sie sonst vielleicht gar nicht in Berührung kämen. Weil es sehr zeitaufwendig und auch anstrengend ist, die Fachliteratur zu studieren. Das nehme ich ihnen ab.

Dresen: Mir hat besonders gut gefallen, dass Sie diese aktuelle Thematik überzeugend mit einer Familientragödie verknüpft haben, die Sie dann noch in die spanische Geschichte des letzten Jahrhunderts eingebettet haben. War das erzähltechnisch nicht noch schwieriger als die Darstellung dieser hermetischen „Cleaner-Szene“?

Kaes: Guter Journalismus transportiert Themen über Menschen. Dachdecken ist auch schwierig. Mein Bruder ist Tischler und zaubert Möbel aus rohem Holz. Das halte ich ebenfalls für schwierig. Wenn das Romaneschreiben leicht wäre, dann wäre es keine Herausforderung und würde mir keinen Spaß machen.

Dresen: Kritiker werden Ihnen vielleicht vorwerfen, dass Sie das „spanische Kolorit“ (Landschaft, Flamenco, Essen, Trinken usw.) zu sehr ausgebreitet haben. Warum war das Ihnen so wichtig? Man merkt, dass es Ihnen richtig Spaß gemacht haben muss, diese schönen Seiten Spaniens zu schildern.

Kaes: Ich liebe dieses Land und die Menschen, die es bewohnen. Soll ich meine Romane im vorauseilenden Gehorsam so schreiben, dass sie jedem Kritiker gefallen? Ich bin zufrieden, wenn Leserinnen und Leser nach der Lektüre sagen, dass sie jetzt einen kleinen Ausschnitt dieser Welt besser kennengelernt haben – und sich dabei gut unterhalten fühlten. In „Das Lemming-Projekt“ geht es ja nicht nur um die dunklen Seiten des Internet, sondern auch um die Macht der Liebe, der Freundschaft, der Solidarität – und um den gelegentlichen Sieg der Wahrheit über die Lüge.

Dresen: Sie lassen an einer Stelle im Roman einen Protagonisten sagen: „Anonyme Leserbriefe werden in einer Zeitung doch auch nicht gedruckt oder zitiert.“ Soll man sich als seriöser Journalist, sollen sich seriöse Medien – ich denke da an unsere etablierten Nachrichtensendungen – mit den „Scheiß-Stürmen“ in der „sozialen Netzgemeinde“ überhaupt beschäftigen, sie überhaupt erwähnen, sondern sie nicht besser stattdessen schlicht und einfach „ignorieren“?

Kaes: Wer ist eigentlich diese „Netzgemeinde“, die von den traditionellen Medien so oft zitiert wird? Jedes Auto trägt ein Nummernschild, damit man es identifizieren kann, wenn es Schaden im Straßenverkehr anrichtet. Nur in den sogenannten sozialen Medien kann völlig anonym und nach Herzenslust beleidigt, diffamiert, erniedrigt, verleumdet und Rufmord begangen werden. Wie konnten die traditionellen Medien nur dazu beitragen, den Begriff „soziale Medien“ für diese Internet-Plattformen zu etablieren? Sie schaufelten sich ihr eigenes Grab.

Dresen: Eine allerletzte Frage: Haben Sie nach der Veröffentlichung Ihres Romans denn auch „Shitstorms“ als Reaktion erfahren?

Kaes: Keine Ahnung. Ich bin nämlich nirgendwo Mitglied. Ich möchte nicht zu diesem Geschäftsmodell beitragen. Bei den Milliarden Facebook-Nutzern wird mich Herr Zuckerberg auch nicht unbedingt vermissen. Ich habe nicht das Gefühl, dass mir in meinem Leben etwas fehlt. Und ich beobachte, dass immer mehr Künstler und auch einige Politiker aussteigen.

Dresen: Lieber Herr Kaes, wir danken für dieses Interview und freuen uns auf eine sicher höchst spannende Lesung im Köllenhof.

Für die Lesung ist wegen der Nachverfolgbarkeit eine Anmeldung per E-Mail erforderlich: Marlies.Frech@wachtberg.de. Die Lesung findet unter der 2G-Regeln statt. Eintritt: 10 Euro.

Mit dieser Lesung möchte der Büchereiverbund Wachtberg übrigens wieder seine traditionelle Lesereihe im Köllenhof aufnehmen, in der lokale Autoren – und auch Autorinnen (!) – „ihrem“ lokalen Publikum ihre Publikationen vorstellen können. Wenn Sie, liebe Leserin und geneigter Leser, also selbst ein Werk (Roman, Erzählung, Krimi, Gedichte) verfasst haben oder jemanden in der Region kennen, der sich literarisch versucht hat, keine Scheu: Bitte melden unter: Dieter Dresen@web.de Auch für Sie dann ein „herzliches Willkommen“ demnächst im Köllenhof zu Ließem! (Dieter Dresen)