Region/Mayen-Koblenz, 09.03.2021 – Zweitältestes Zentrum für Querschnittlähmung in Deutschland ist zertifiziert. Die Querschnittlähmung, eine unfall- oder krankheitsbedingte Schädigung des Rückenmarks, ist eine der schwerwiegendsten Behinderungen, die einen Menschen treffen kann. Für den Betroffenen und die Angehörigen verändert sich das Leben schlagartig und entscheidend.
„Es ist wichtig zu wissen, dass Querschnittlähmung weit mehr bedeutet als die sichtbare Lähmung der Beine oder auch Arme. Sie kann nicht mal eben mit einem Rollstuhl ausgeglichen werden“, erläutert Walter Ditscheid, Leitender Arzt des Zentrums für Querschnittlähmung im Gemeinschaftsklinikum Mittelrhein, Ev. Stift St. Martin. „Fast immer liegt auch eine Gefühllosigkeit verbunden mit dem Verlust des Lageempfindens im gelähmten Bereich vor. Der Patient weiß gar nicht, wo seine Beine sind und es kommt vor, dass sich der Betreffende unbemerkt beim Rollstuhlfahren das Sprunggelenk bricht.“ Zusätzlich ist auch immer das autonome (unwillkürliche) Nervensystem geschädigt. Es ist für die Steuerung der inneren Organe – unter anderem auch für die Blasen- und Darmtätigkeit – verantwortlich. In der Folge leiden die betroffenen Menschen an einer Blasen- und Darmlähmung mit unkontrolliertem und unbemerktem Urin- und Stuhlabgang. „Das ist meist für sie am schlimmsten und oft die Ursache der Isolation. Unsere Aufgabe ist es, diesen Menschen wieder ein lebenswertes und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.“ Das dies auf einem hohen Niveau erfolgt, beweist die kürzlich erfolgte Zertifizierung durch die Deutschsprachige Medizinische Gesellschaft für Paraplegiologie (DMGP). „Das Zentrum für Querschnittlähmung hier im Ev. Stift wurde sogar in die höchste, zu erreichende Stufe (Level 1a) gesetzt“, freut sich Ditscheid.
Seit über 65 Jahren gibt es diese Spezialisierung im Ev. Stift: 1955 wurde in der Berufsgenossenschaftlichen Sonderstation am Krankenhaus Ev. Stift St. Martin eine Station für Querschnittgelähmte eröffnet. Heute ist es das zweitälteste Zentrum für Querschnittlähmung in Deutschland und Teil der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie unter der Leitung von Chefarzt Prof. Dr. Atesch Ateschrang. Anfang 2021 wurde es um 12 Betten erweitert. Somit stehen jetzt 38 Betten auf zwei Sonderstationen zur Verfügung. Bis 2022 sollen es 56 Betten werden. „In früheren Zeiten wurden fast ausschließlich frische, durch Unfall oder Krankheit verursachte Rückenmarksgeschädigte stationär behandelt. Heute behandeln wir auch ältere Querschnittgelähmte wegen querschnittspezifischer Komplikationen stationär. Durch unsere Sprechstunde wird auch die lebenslange Nachsorge gewährleistet“, erklärt Walter Ditscheid.
Die medizinische Behandlung und die Rehabilitation gehen Hand in Hand. Grundsätzlich bedarf es einer komplexen Behandlung durch ein multiprofessionelles Behandlungsteam. Dieses besteht aus Ärzten, Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Sporttherapie, physikalische Therapie, Logopädie, Psychologie, Sozialdienst, Seelsorge, Beratung durch Betroffene und Orthopädietechnik. Zudem ist eine enge Zusammenarbeit mit den Kostenträgern wie Berufsgenossenschaften, Krankenkassen, etc. notwendig. Wichtig ist aber auch die Infrastruktur des Krankenhauses. Ohne eine gut ausgestattete Unfallchirurgie und eine moderne Intensivstation wäre die Behandlung dieser schwerstverletzten Patienten nicht möglich. Unabdingbar sind aber auch die Urologie, die Radiologie, die Innere Medizin, die Plastische Chirurgie, die Schmerztherapie, Neurologie und Neurochirurgie. Angegliedert ist auch ein großer Rollstuhlsportverein, der vielerlei Sportarten (Tischtennis, Rollstuhlrugby, Basketball, Bogenschießen, Kegeln, Rollstuhltanz, etc.) anbietet. „Auch die Nähe zur Stadt, zu den Rheinanlagen und zum Bahnhof ist optimal. Beispielsweise kann der Patient mit den Therapeuten von Rehafit hier ein Alltagstraining absolvieren. Das bedeutet, mit dem Rollstuhl Bordsteinkanten überwinden, unebene Gehwege beherrschen, sich voraussehend in der Stadt und in Geschäften bewegen und vieles mehr“, erklärt der Leiter des Zentrums. „Wir haben hier ideale Voraussetzungen zu einer umfassenden Rehabilitation und zur Wiedereingliederung der Menschen in die Gesellschaft und gegebenenfalls in den Beruf.“